Der Arbeitskreis "Heimatvertriebene in Feldkirchen-Westerham" ist im entstehen.
Er widmet sich der Dokumentation des inzwischen historischen Ereignisses, der Vertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches und den Auswirkungen dieses Zuzuges auf Feldkirchen-Westerham und Umgebung. Er umfasst die Begriffsbereiche Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Ausgebombte oder Neubürger, wie sie im Amtsdeutsch hießen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wurden sie oft nur als Flüchtlinge bezeichnet. Dabei verbergen sich die unterschiedlichsten Schicksale hinter den diesen Bezeichnungen.
 
Wenn Sie Interesse an einer Mitarbeit im Arbeitskreis haben, bitte melden Sie sich bei Alfred Trageser, Schriftführer oder bei Peter Schmitt von der HkS.

 

Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Ausgebombte, Neubürger

Beim Thema „Flucht und Vertreibung“ ist Sprache von große Bedeutung, denn Worte können Wertschätzung oder Herabsetzung suggerieren. 

Begriffe als Schlüssel zum Verständnis

Flüchtlinge, Vertriebene, Heimatvertriebene, Neubürger, das waren nach dem Zweiten Weltkrieg häufig synonym verwendete Begriffe für die Menschen, die zwangsweise ihre Heimat verlassen hatten. Mit Begriffen wurde Politik gemacht und gewertet: Wer von „Ostflüchtlingen“ redete, wollte oftmals die Betroffenen herabsetzen. Von Amts wegen wurden die Flüchtlinge und Vertriebene „Neubürger“ genannt. Damit wurde unter anderem auch betont, dass sie die gleichen Rechte hatten wie die „Altbürger“. In der DDR wurden sie beschönigend „Umsiedler“ genannt, weil man damit – im Einklang mit dem „großen Bruder“ Sowjetunion – kaschieren wollte, dass es gewaltsam Vertriebene aus dem kommunistischen Machtbereich waren. Die Vertriebenen selbst nannten sich „Heimatvertriebene“, um sich vom rasch zum Schimpfwort avancierten Begriff „Flüchtlinge“ abzugrenzen und um mit dem emotional besetzten Wort „Heimat“ ihr Schicksal zu unterstreichen.

Viele Vertriebene lebten zunächst in rasch eingerichteten Notwohnungen, ausrangierten Eisenbahnwaggons, Fabrikhallen, in Kellern oder in Notunterkünften mit lediglich einer Dachpappe über dem Kopf. Noch Ende des Jahres 1954 lebten im Land rund 128.000 Menschen in solchen provisorischen Behausungen, für die der Volksmund rasch die abwertenden Bezeichnungen „Kleinkorea“, „Nissensiedlungen“ oder „Batschkahütten“ fand.

 

Wann ist man angekommen? Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland

Flüchtlinge, die heute vor Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen fliehen, rufen bei vielen Deutschen historische Bilder wach. Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Andreas Kossert über Schwierigkeiten, Herausforderungen und verdrängte Erinnerungen.

Menschen auf der Flucht um 1945
Menschen auf der Flucht um 1945 (© Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09, Foto: o.Ang.)
 
"Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören".

Christoph Hein, selbst Vertriebener aus Schlesien, hat in seinem Roman "Landnahme" die tiefen Konflikte innerhalb der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Bis zu 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge strömten in das verbliebene Deutschland, ohne Rückfahrkarte im Gepäck. Sie stammten aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, aus Czernowitz, aus Siebenbürgen, aus der Gottschee. Mitnichten kamen jedoch Deutsche zu Deutschen, denn zu unterschiedlich waren kulturelle und mentale Prägungen. Bauern aus Galizien trafen auf urbane Württemberger, Prager Großbürger auf Oberfranken auf dem Land. Dialekte, Mentalitäten, Konfessionen und Sozialisationen – die Unterschiede konnten kaum größer sein.

Fundamentale Änderungen der Gesellschaft

"Wir können alles. Außer Hochdeutsch!“ lautet eine geniale Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg. Mit dieser Aktion propagiert der Südwest-Staat eine spezifische Eigenart, selbstbewusst und lokalpatriotisch. Im Zeitalter von Globalisierung und Krisen sehnen sich viele nach dem Regionalen, dem Fassbaren, dem Vertrauten. Was aber macht die lokale Identität aus? Daraus ergibt sich ebenfalls die Frage: Wann ist man angekommen? Gleichzeitig scheint ebenfalls die Frage berechtigt, ob einige vielleicht nie ankommen, weil sie immer fremd bleiben.

Was wissen wir überhaupt von den fundamentalen Änderungen durch die Ankunft von Flüchtlingen und Vertriebenen? Nach 1945 konnten bis zu zwanzig Prozent aller Menschen kein Bayerisch, Fränkisch oder welche Mundart auch immer. Ja, viele können es bis heute nicht. Sie sprachen Egerländisch, Böhmisch, Schlesisch, Ostpreußisch oder die Idiome Siebenbürgens, des Banats, der Batschka oder das russlanddeutsche Schwäbisch. Doch ist ihr kulturelles und sprachliches Erbe integraler Teil unserer Identität geworden. Wie schwierig ist "Integration", und vor allem, ab wann ist sie als gelungen zu betrachten. Vorsicht ist ebenfalls geboten, wenn zwar Begriffe wie "Eingliederung" oder "Integration" verwendet werden, man aber eigentlich als Wunschziel die Assimilation von Flüchtlingen und Vertriebenen vor Augen hat. Wie stellt sich heute die Problematik der Flüchtlinge  / Asylanten dar?

Wahrnehmung der "Fremden"

Die fremden Deutschen aus dem Osten wurden in den vier Besatzungszonen, vielfach als "Polacken", als "Zigeuner", als "Rucksackdeutsche" diffamiert. Willkommen waren sie nicht, vielmehr bestimmte Fremdheit ihren Alltag. Wenn Flüchtlinge zwangsweise ihre Heimat verlassen, tauchen historisch immer wiederkehrende Bilder auf, die uns seit den ältesten schriftlichen Überlieferungen im Alten Testament vertraut sind: Die Geschichte vom Eigenen und Fremden, von Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit, von Hilfsbereitschaft und Rassismus, von Integration, Assimilation oder dauerhaft empfundenem Exil. 2015 kamen eine Million Flüchtlinge nach Deutschland, eine neue Willkommenskultur brach sich vorübergehend Bahn. Deutschland handelte anders als viele europäische Nachbarn. Menschen auf der Flucht 2015 – diese Bilder rufen historische Erfahrungen von Millionen Deutschen wach. Mutig und nicht unumstritten wehte am Leipziger Rathaus 2015 ein Banner mit flüchtenden Frauen und Kindern in Danzig 1945 sowie im syrischen Kobane 2015, ohne weitere Kommentierung. Bewusst lud Oberbürgermeister Burkhard Jung damit zur Reflexion ein, um die Menschen durch das Prisma eigener nationaler Erfahrungen empathiefähiger für die Flüchtlinge unserer Tage zu sein. Die Stadt Leipzig dokumentierte damit, dass historische Erfahrungen einen Resonanzraum in der Gegenwart haben. Das unterstreicht auch der Initiator der Initiative Cap Anamur, der kürzlich verstorbene Rupert Neudeck. Er begründet seine eigene Fluchterfahrung 1945 aus Danzig für sein Engagement für Flüchtlinge unserer Tage:

"Die Bilder von damals blieben in mir gespeichert, prägten mein weiteres Leben – und machten mir etwas sehr Wichtiges klar: Eigentlich haben die meisten Menschen einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat. Und auch wer zu wissen meint, dass seine Familie schon immer da war, wo er jetzt lebt, sollte sich nicht so sicher fühlen. Es könnte durchaus sein, dass es ihn oder seine Nachkommen in Zukunft doch noch erwischt. Denn in uns allen steckt ein Flüchtling".

Diese Beispiele zeigen, wie nachhaltig die Ankunft von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen war, denn sie haben Deutschland fundamental, ja revolutionär, verändert. Dennoch gewinnt man manchmal den Eindruck, als sei uns das immer noch nicht recht bewusst. Anders war es in London, als 2014 dort unter großer medialer Beachtung im Britischen Museum eine außergewöhnliche Ausstellung "Germany. Memories of a Nation" eröffnet wurde. Unter den wenigen Objekten, die dort die deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis heute repräsentierten, wählte das Kuratorenteam unter Neil MacGregor ein Fluchtgefährt, einen Handwagen, mit dem eine deutsche Familie aus Pommern 1945 in den Westen geflüchtet war. Flucht als kollektive Erfahrung der Deutschen im 20. Jahrhundert: In London hatte man die Dimensionen des Fluchtgeschehens für die deutsche Gesellschaft nach 1945 längst erkannt und ihrer Bedeutung entsprechend exemplarisch an diesem zentralen Ort britischer Geschichte präsentiert.

Deutschland – Flüchtlingsland

Aufgrund jener kollektiven Erfahrungen ist Deutschland eigentlich ein Flüchtlingsland. Mehr noch, diese Bundesrepublik ist ohne Flüchtlinge nicht zu denken. Besorgte Pegida-Wutbürger ziehen auf die Straßen mit Transparenten wie "Bitte weiterflüchten", vielleicht nicht einmal ahnend, dass ihre Eltern oder Großeltern nach 1945 im besetzten Nachkriegsdeutschland selbst Zuflucht suchen mussten. Im November 2014 erinnerte der Nobelpreisträger Günter Grass in Hamburg an die Not am Ende des Zweiten Weltkrieges: Er forderte – in der ihm eigenen pointierten Zuspitzung – ähnlich den Nachkriegsjahren nichts weniger als Zwangseinquartierungen in den gepflegten Eigenheimen der Deutschen. Damit sollte Flüchtlingen unserer Tage ein Obdach gegeben werden. Siebzig Jahre später eine ungeheuerliche Zumutung für behagliche Wohlstandsmilieus durch einen intellektuellen Provokateur. Doch Grass erinnert zurecht an reale Lebenswelten im Deutschland jener Jahre, als Heimatlose, zu denen auch der gebürtige Danziger zählte, nach Kriegsende in dieses Land kamen, ohne die Möglichkeit ihrer Rückkehr. Von der konkreten Ankunftserfahrung geprägt, trat Günter Grass als früher Mahner gegen die eine gelungene Integration zelebrierende westdeutsche Politik auf, deren Leistungsstolz die tiefgreifenden Probleme der Vertriebenen kaschieren wollte. Hier sprach er, das ist unverkennbar, als persönlich Betroffener.

"Während der ersten Nachkriegsjahre bestimmten Hunger und Kälte, die Not von Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten den Alltag. In allen vier Besatzungszonen konnte der zunehmende Andrang von schließlich mehr als zwölf Millionen Deutschen, die aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien, dem Sudetenland geflüchtet waren oder ausgewiesen wurden, nur durch Zwangseinweisung in beschränkten Wohnraum reguliert werden. […] Mithin eine Leistung besonderer Art. Denn die Zwangseinweisung von Flüchtlingen und Vertriebenen musste oft genug gegen den fremdenfeindlichen Widerstand sesshaft einheimischer Bevölkerung durchgesetzt werden; die Einsicht, daß alle Deutschen, nicht nur die Ausgebombten und nunmehr Heimatlosen, den Krieg verloren hatten, dämmerte nur zögerlich; so früh wurde hierzulande das bis heute virulente Verhalten gegenüber Ausländern im Umgang von Deutschen mit Deutschen eingeübt."

Nicht willkommen

Willkommen waren sie nicht, die Flüchtlinge. "Verschwinds, damisches Gesindel", entgegnete man im Chiemgau einem kleinen Flüchtlingsjungen aus Ostpreußen, manchmal ließ man die Hunde von der Kette. "Flüchtlingsschweine", "Mulattenzucht" und "Polacken" schimpfte man sie. Allein auf sich gestellt, waren sie auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. "Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge", sagte man nach dem Krieg im Emsland. Für einige Zeitgenossen erschien es, als drängten sie ein wie eine "biblische Plage", obwohl die Flüchtenden selbst keinen Einfluss auf das Geschehen hatten. Zwangseinquartierungen von Vertriebenen in die Häuser der Einheimischen, an die Günter Grass erinnert, gefährdeten mancherorts die soziale Ordnung. Maschinenpistolen der Besatzungsmächte mussten häufig unter Androhung von Gewalt die Aufnahme der Obdachlosen erzwingen. 1946 traf Grass seine Eltern und Schwester im Bergischen Land nach fast zwei Jahren Trennung wieder. Er erlebte persönlich die erzwungene Einquartierung bei einer eingesessenen Bauernfamilie und beschrieb diese Ankunftssituation in seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" so:

"Vor mir standen Vertriebene, als einzelne zwar, doch unter Millionen von nur statistischem Wert. Ich umarmte Überlebende, die, wie es hieß, mit dem Schrecken davongekommen waren. Man existierte noch irgendwie, aber…. […] Die zuständige Behörde hatte die Eltern und die Schwester bei einem Bauern eingewiesen. Dieser Zwang war üblich, denn freiwillig wurden Flüchtlinge und Vertriebenen selten aufgenommen. Besonders dort, wo keine Schäden sichtbar waren, Haus, Stall und Scheune wie unbekümmert auf Erbrecht fußten, zudem keinem Bauernschädel ein Haar gekrümmt worden war, verweigerte man die Einsicht, den siegreich bejubelten Krieg gemeinsam mit den Geschädigten verloren zu haben.

Nur weil von der Behörde gezwungen, hatte der Besitzer des Hofes meinen Eltern den zweigeteilten Raum mit Betonfußboden überlassen: eine ehemalige Futterküche für Schweinemast. Beschwerden halfen nichts. "Geht doch hin, wo ihr hergekommen seid!" hieß die Antwort des seiner Hektar sicheren Bauern, der so katholisch war wie jener, dem ich im Frühjahr des vergangenen Jahres davongelaufen war. Allerorts hatte man sich schon immer misstrauisch bis feindselig gegenüber Fremden verhalten und – wie es hieß – Hergelaufenen verhalten; dabei sollte es bleiben."

Hier wagt Grass Zusammenhänge herzustellen, die für die großen Nachkriegsnarrative von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, aber auch von Verdrängung und Verantwortung, schwere Kost waren. Die ihren Opferstatus herausstellenden Vertriebenenverbände hingen am Subventionstropf der von Einheimischen geprägten Landes- und Bundesregierungen und stimmten frühzeitig in den westdeutschen Hurrapatriotismus der "gelungenen Integration" ein. Grass sah diesen Integrationsprozess von Anfang an kritischer, sah die mentalen Verletzungen, das Heimweh insbesondere der Alten. Diskriminierung, Ausgrenzung und Feindschaft gegenüber den deutschen Vertriebenen innerhalb der deutschen Gesellschaft thematisierte er bereits frühzeitig.

Traumatische Ankunftserfahrungen

Zahlreiche Belege für die teilweise traumatischen Ankunftserfahrungen im Westen bietet die deutsche Nachkriegsliteratur. Sie ist ein verlässlicher Seismograf für die Erfahrungen von Heimatverlust und Exil. Neben vielen anderen Autoren sind es Christoph Hein, Günter Grass, Siegfried Lenz und auch Christa Wolf, die dieses Schicksal selbst teilten. Viele Heimatlose konnten ihren Verlust nicht verkraften und zerbrachen regelrecht daran. Heimweh als Todesursache, davon erzählt Christa Wolf in ihrem 1976 erschienenen Buch "Kindheitsmuster":

"Für die Alten – für die, die seit Jahren vom Tod gebrabbelt hatten, um den Widerspruch der Jüngeren zu hören – wurde es Zeit, zu schweigen; denn was jetzt vor sich ging, das war ihr Tod, sie wussten es gleich, sie alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben."

Oft wurde von der gelungenen Integration gesprochen, das war jedoch oft eine Reduzierung auf die materiellen Folgen der Vertreibung. Andere Dimensionen übersah man dabei häufig gern, sie passten nicht ins Bild der zupackenden Bundesrepublik. Insbesondere alten Menschen fehlte vielfach die Kraft zu einem Neuanfang. Auf den Friedhöfen in Deutschland künden Grabinschriften von dieser Sehnsucht der Flüchtlinge: die Heimatorte der Verstorbenen – Stettin, Waldenburg, Allenstein, Flatow, Glatz, Eger – unterstreichen in Stein gemeißelt ihre irdische Heimatlosigkeit.

Deutschland und seine Vertriebenen: Nach 1945 war ihre Anwesenheit die ungeliebte Mahnung an den gemeinsam verlorenen Krieg, den man am liebsten verdrängen und vergessen wollte. Allein auf sich gestellt, waren die Vertriebenen auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Katharina Elliger berichtet über ihre Ankunft in Westfalen:
"Am Morgen darauf machte ich mich mit meiner Mutter auf den Weg, um ausfindig zu machen, wo wir einquartiert werden sollten. […] Schließlich baten wir einen Mann, der auf dem Feld arbeitete, um Auskunft. Er machte nur eine unbestimmte Geste und fragte: ‚Wo kommt ihr denn wech?‘ Ich fand seine Aussprache lustig. Auf meine Antwort: ‚Aus Schlesien‘ schüttelte er den Kopf: ‚Kalte Heimat, watt? Polacken! Kieschitzki und Co!‘ Wir waren entsetzt. Mit einem Schlag war uns klar, wofür man uns hielt: dahergelaufenes Pack mit zweifelhafter Herkunft."

Frontal trafen zwei Welten aufeinander: Habenichtse und Besitzende. Die Vertriebenen kamen überwiegend auf dem Land in eine feindliche Welt einheimischer Besitzstände. Im nordhessischen Oberlistingen sagte ein einheimischer Bauer im Jahr 1950, überfordert mit dem, was seine vertriebenen Landsleute erlebt und erlitten hatten:
"Die Heimatvertriebenen können uns nicht immer auf der Pelle sitzen. Sie wollen nun schon Schweine und Hühner halten. Wir sollen ihr Viehzeug mit in unsere Ställe sperren. […] Wir sind nicht schuld, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Sie sprechen zwar immer davon, dass wir gemeinsam den Krieg verloren hätten; aber man kann doch nicht so einfach alles teilen wollen."

Materielle Hilfen

Dass es mit Soforthilfegesetz und Lastenausgleichsgesetzgebung materielle Möglichkeiten für einen Neuanfang gab, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere in der Bundesrepublik eine wirkliche Entschädigung nie erfolgt ist, auch gar nicht erfolgen konnte. Im Nachgang darf man die geleistete Hilfe nicht verklären, denn es hat handfeste Verteilungskämpfe und Interessenkonflikte gegeben. Deutlich kritisierte Günter Grass die in seinen Augen ungerechte Verteilung der Kriegsfolgen. Insbesondere Verarmung und soziale Ungerechtigkeiten des Lastenausgleichs offenbarten, dass die Flüchtlinge aus dem Osten die Hauptlast für die deutsche Schuld bezahlt hätten. Eine wahre solidarische Umverteilung sei unterblieben, das westdeutsche Eigentum unangetastet geblieben.

"Nachdem die letzten Illusionen zu schwinden beginnen und deutlich wird, dass die verlorenen Ostprovinzen – Schlesien, Pommern und Ostpreußen – weder durch bloßes Wünschen noch durch die demagogische Formel ‚friedliche Rückgewinnung’ zurückgewonnen werden können, zeichnet sich ab, wie einseitig die Hauptlast des verlorenen Krieges den ehemaligen Flüchtlingen aufgebürdet worden ist: Während sie ihre Heimat verloren, klammerte sich der westdeutsche Besitzstand an Grund und Boden, kam es nicht zum Lastenausgleich."

Und dennoch: Auf revolutionäre Weise hat sich Deutschland nach 1945 durch die Ankunft der Flüchtlinge verändert; alles schien aus den Fugen geraten. Die bloße Anwesenheit der Flüchtlinge stellte gewachsene Hierarchien und Traditionen in Frage. Kurzum: Flüchtlinge waren Motoren einer ungeahnten Modernisierung, sie brachen verkrustete Strukturen auf und trugen maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit war für Millionen Deutsche eine Grunderfahrung, was nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaft bleiben konnte. Auch die Einheimischen standen vor gewaltigen Herausforderungen. Zwei völlig unterschiedliche Erfahrungswelten trafen aufeinander, die häufig einem "cultural clash" gleichkamen. Der große Unterschied liegt auf der Hand: Wer sich seiner Heimat stets sicher sein konnte, brauchte sich nie Fragen nach Identität zu stellen. Wer sie verloren hatte, musste sie das ständig tun. Erzwungener Heimatverlust bringt jedoch die Gewissheit vom geschützten Raum, vom Elternhaus, vom Dialekt der Kindheit, den Gerüchen der Küche, diese von frühester Kindheit geprägte Gewissheit von Zugehörigkeit durcheinander. Für Millionen Deutsche war das eine konkrete persönliche Erfahrung.

Verdrängte Erinnerung

Die Trauer um die verlorene Heimat, die Verletzungen durch die Ankunftserfahrungen – sie fanden hinter verschlossenen Türen statt, privatisiert in den Familien. Und die Geschichten begleiten die Familienangehörigen bis heute. Nachgeborene Kinder von Vertriebenen werden häufig erst durch den Tod der Eltern noch einmal mit den Traumatisierungen in der Familiengeschichte konfrontiert. Solche Geschichten sind in Deutschland millionenfach zu erzählen und wirken weiter nach. Doch wurden sie – wenn überhaupt – in den Familien weitergegeben, der Welt der Einheimischen blieben sie oft verborgen. Die innere, die mentale Kluft zwischen Deutschen, die ihre Heimat verloren haben und denen, die sie nicht verloren haben, existiert nach wie vor – so der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, obwohl äußerlich kein Unterschied mehr feststellbar ist. In vielen Millionen deutscher Wohnzimmer wurde getrauert um den Verlust der Heimat. Daher verlaufen die unterschiedlichen Erzählungen auch nicht entlang politischer Linien, sondern, ob die Heimat der Familie im Böhmerwald, Riesengebirge oder Siebenbürgen war oder im Westerwald, Lüneburger Heide oder Schwarzwald.

Lange Zeit begnügte man sich in der Darstellung der Ankunft der Vertriebenen im verbliebenen Teil Deutschlands mit der Erzählung der Erfolgsgeschichten, die allein die materiell messbare Integration unterstreichen sollten. Sind die Flüchtlinge und Vertriebenen als neue Hessen oder Rheinland-Pfälzer Teil einer neuen Landesidentität geworden? Das wäre ein Zeichen von gelungener Integration. Nicht nur die Angekommenen mussten sich an die neuen Gegebenheiten anpassen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaften veränderten sich. Doch hinterließen diese Veränderungen kaum Spuren im kollektiven Bewusstsein. Noch heute lohnt exemplarisch ein Blick in Ortschroniken und Regionalgeschichten. Wenn überhaupt, kommt die Ankunft der Vertriebenen – die häufig bis zwanzig bis fünfzig Prozent der örtlichen Bevölkerung nach Kriegsende ausmachen konnten – in wenigen Sätzen vor, dann wird die Dorfgeschichte weitererzählt, als habe die Ankunft der Schlesier, Ostpreußen oder Donauschwaben gar nichts in der lokalen Gemeinschaft verändert. Viele Vertriebene empfanden ihren Aufenthalt viele Jahrzehnte deshalb nur als Geduldetsein, deshalb wählten viele die innere Emigration.

Flüchtlinge, die heute vor Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen fliehen, rufen bei vielen Deutschen historische Bilder wach. Dieses Land hat trotz der beschriebenen Schwierigkeiten mit der Integration von Millionen Vertriebener eine ungeheure kulturelle und soziale Herausforderung gestemmt, als manche ein Scheitern oder gar ein schwelendes revolutionäres Pulverfass voraussagten. Dass es dennoch auf der physischen und finanziellen Ebene gelungen ist, erleichtert vielleicht heute Mitgefühl und Solidarität, unaufgeregt und souverän. Gleichzeitig lohnt einmal mehr ein neuer Blick auf eigene Familienbiografien. Das "Bitte weiterflüchten" der Dresdener Transparente hingegen offenbart einen Zynismus, der diese elementaren historischen Erfahrungen ausblendet. Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Vertreibung, Heimatlust und unerwünschte Ankunft haben als millionenfache Erfahrung in der deutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen und das Flüchtlingsschicksal damit in der mentalen Verfassung der deutschen Gesellschaft eingeschrieben. Die beschriebenen Schwierigkeiten auf der emotionalen Ebene aber sollten gleichzeitig das Bewusstsein für die enormen Herausforderungen einer wirklichen und gelungenen Integration schärfen.

von: Andreas Kossert, Wann ist man angekommen? Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland, in: Deutschland Archiv, 30.11.2016, Link: www.bpb.de/238108